Ausstellung:

a-z Universitätsbibliothek Tübingen

"500 Jahre Tübinger Rhetorik - 30 Jahre Rhetorisches Seminar"

15.Jh, Jakob Locher
15.Jh, Jakob Locher
Fortsetzung:

500 Jahre und ein bißchen weise: Rhetorik in Tübingen

... Was hat Jenninger falsch gemacht? Warum kam Weizsäcker beim Publikum so gut an? Warum glauben wir Nachrichtensprechern? Warum Politikern nicht? Wie funktioniert Werbung? Solche und ähnliche Fragen können Rhetoriker möglicherweise besser beantworten als andere, denn schon immer hat die Rhetorik ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie Inhalte möglichst überzeugend, d.h. wirkungsvoll, vermittelt werden können. Der Rhetoriker nennt diesen Aspekt Persuasion. Bedenkt man, mit wie vielen Informationen wir täglich überschüttet werden, so wird die Aktualität der altehrwürdigen Disziplin Rhetorik leicht einsichtig. Darauf weist auch der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer mit seinem Ausspruch von der "Ubiquität der Rhetorik" hin.

Mit der Gründung eines selbständigen Instituts für Rhetorik 1967 wagte man in Tübingen einen Schritt, der durch die internationale Renaissance der Rhetorik nach dem Zweiten Weltkrieg schon vorgezeichnet war. So schrieb Walter Jens, damals Inhaber des Lehrstuhls für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik, in seinem Gründungsantrag: "Zur Begründung dieses Antrags weise ich darauf hin, dass es auf die Dauer ganz unmöglich ist, zwei so umfangreiche Fächer wie die klassische Philologie und die Rhetorik angemessen vertreten zu können. Wenn man bedenkt, dass an den amerikanischen Universitäten die Rhetorik auf breitester Basis gelehrt wird - es gibt innerhalb der Rhetorik-Institute Fach-Abteilungen für Homiletik, für Fragen der Propaganda, der Geschichte der Rede, des Nachlebens der antiken Rhetorik, der Poetik und Rhetorik, der Werbung etc. - wenn man weiter bedenkt, dass die Disciplin der Rhetorik in gleicher Weise die Kenntnis der mittelalterlichen Briefsteller, der englischen Parlamentsrede oder der Propagandapraktiken des Totalitarismus verlangt, und wenn man sich schließlich vor Augen führt, dass von einer Geschichte der deutschen Predigt bis zu einer Darstellung der rhetorica nova, die im Augenblick in den angelsächsischen Ländern eine große Renaissance erlebt, auf dem Felde der Rhetorik die wichtigsten Aufgaben noch zu tun sind, dann wird leicht einsichtig sein, dass ein Wissenschaftler neben dieser Disciplin unmöglich noch ein zweites Fach versorgen kann. Es erscheint also plausibel, dass - um einen Anfang zu machen - auf deutschem Boden jedenfalls ein selbständiges Institut für Allgemeine Rhetorik eingerichtet wird."

Heute, 30 Jahre später, sind die Forderungen von Walter Jens größtenteils eingelöst. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik erfreut sich mit seinen 600 Studierenden trotz des nötig gewordenen Numerus Clausus ungebrochener Beliebtheit. Die Studierenden schätzen besonders die große Bandbreite der angebotenen Themen und die Verbindung von Theorie und Praxis, die diese Disziplin schon immer charakterisiert hat. Spezielle Praxisseminare vermitteln berufsqualifizierende Kenntnisse, wie sie heute von der Wirtschaft immer mehr verlangt werden: Das Spektrum reicht vom einfachen Umgang mit der Videokamera über das Schreiben von Drehbüchern oder der Produktion von Hörfunk- und Fernsehfeatures bis hin zur Konzeption ganzer PR-Kampagnen. Entsprechend vielfältig sind auch die Berufe, in denen man Rhetoriker finden kann: Journalist, Ghostwriter, Redenschreiber, Medienberater und Werbetexter sind nur einige Beispiele. Auch der wissenschaftliche Ertrag des Seminars kann sich sehen lassen. Hier reichen die Themen von Untersuchungen zur Rhetorikgeschichte bis hin zu Problemen moderner Unternehmenskommunikation. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Projekt dient der Erarbeitung eines umfassenden Historischen Wörterbuchs der Rhetorik - ein wissenschaftliches Großunternehmen, an dem mehrere hundert Gelehrte des In- und Auslandes mitarbeiten.

So ist das kleine Tübinger Seminar heute zu einem Mittelpunkt nicht nur der nationalen, sondern auch der internationalen Rhetorikforschung geworden.

Heinrich Bebel, der 1496/97 auf die Lektur für Rhetorik berufen wurde und damit der erste längere Zeit wirkende Rhetorik-Professor an der Tübinger Alma mater war, hätte sich dies wahrscheinlich nicht träumen lassen. Als Humanist galt aber auch ihm die Rhetorik als Schlüsseldisziplin: Sie vermittelte grundlegende Fähigkeiten zur Produktion von ästhetisch ansprechenden Texten in der Gelehrtensprache Latein. Und dies hieß im Kontext der Zeit dann eben auch: In der Kunst erfolgreicher Kommunikation.

Mit verschiedenen Veranstaltungen wird das Doppeljubiläum "500 Jahre Tübinger Rhetorik - 30 Jahre Rhetorisches Seminar" im Sommersemester gefeiert. Eine Vortragsreihe "Lebendige Rhetorik" im Rahmen des Studium generale untersucht die Beredsamkeit und ihre Kultur in Deutschland. Zu ihrem Abschluß am 8. Juli spricht Bundespräsident Professor Dr. Roman Herzog über Rhetorik in der Demokratie.

Vom 12. Mai bis 31. Juli gibt es im Bonatzbau der Universitätsbibliothek eine umfangreiche Ausstellung zu sehen, die 500 Jahre Tübinger Rhetorik dokumentiert. Begleitend erscheint ein Katalog mit Beiträgen gelehrter Tübinger und Ex-Tübinger. Mit einer Tagung zum Thema "Rhetorik und Topik" im Oktober in Blaubeuren lassen die Rhetoriker ihr Jubiläumsjahr ausklingen.

Hagen Schick, Dietmar Till
Seminar für Allgemeine Rhetorik

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